Reisen ist Begegnung: mit fremden Kulturen, neuen Menschen und unvertrauten Gewohnheiten. Doch in den letzten Jahren hat sich eine Entwicklung im Tourismus etabliert, die viele Reisende irritiert: das flächendeckende, oft unreflektierte Duzen. Ob an der Hostel-Rezeption, beim Check-in im stylishen Boutique-Hotel, auf Social Media oder beim Buchen einer Stadtführung – das „Du“ ist fast zur Norm geworden. Was locker, modern oder verbindlich klingen soll, wirkt auf viele eher übergriffig, anbiedernd oder schlichtweg unangebracht.
Diese Entwicklung hat selten mit echter Nähe zu tun. Vielmehr ist sie ein Resultat aus Marketingpsychologie, Globalisierung und einer fragwürdigen Nivellierung von sprachlicher Distanz und Respekt.
Woher kommt das „Du-Dilemma“?
Das inflationäre Duzen hat mehrere Wurzeln, die sich gegenseitig verstärken. Ein wesentlicher Treiber ist die Digitalisierung und die Verbreitung sozialer Medien. Plattformen wie Instagram, Booking.com oder Airbnb setzen auf eine persönliche Ansprache, um Nutzerbindung zu erzeugen. Das „Du“ suggeriert hier Nähe, Authentizität und Vertrauen – oft ein Mittel zur Kundenbindung, weniger zur echten Beziehungspflege.
Hinzu kommt der angloamerikanische Einfluss. Viele Kulturen, insbesondere die englischsprachige, kennen keine formale Anredeform; das englische „you“ ist neutral. In deutschen Übersetzungen wird daraus leider allzu oft automatisch das „Du“ – mit unreflektierten Folgen für Tonalität und Kommunikation im deutschsprachigen Raum. Gleichzeitig prägt die Marketing-Sprache im Tourismus dieses Phänomen. Der Reisende wird hier oft als „Freund“, „Abenteurer“ oder „Gastgeber“ stilisiert, doch die Kommunikation folgt einer klaren Verkaufslogik. Das vermeintlich freundschaftliche „Du“ ist häufig Teil eines Marketingkonzepts, nicht Ausdruck einer wirklichen Beziehung. Nicht zuletzt hat auch die Hostel- und Backpacker-Kultur zur Verbreitung beigetragen, wo sich besonders unter jüngeren Individualreisenden ein „globales Du“ etabliert hat – oft unabhängig von Herkunft oder Kontext. Wer hier widerspricht, gilt schnell als steif oder altmodisch.
Wenn Offenheit zur sprachlichen Entgleisung wird
Was als freundliches Signal gemeint ist, kann schnell das Gegenteil bewirken. Sprachliche Nähe ohne einen entsprechenden sozialen Bezug empfinden viele als Grenzüberschreitung. Gerade im deutschsprachigen Raum hat das „Sie“ nach wie vor eine wichtige Funktion: Es schafft Raum, Respekt und eine neutrale Gesprächsebene – insbesondere bei neuen Begegnungen im geschäftlichen oder dienstleistenden Kontext.
Diese ungewollte Vertraulichkeit zeigt sich in vielen Situationen:
- Die Rezeptionistin im Hotel begrüßt Sie ungefragt mit „Hallo, schön, dass du da bist!“
- Ein Tourguide spricht seine Gäste direkt „per Du“ an, ohne deren Zustimmung einzuholen.
- Werbetexte locken mit Phrasen wie „Du willst was erleben? Dann bist du hier genau richtig!“
- Newsletter oder Buchungsbestätigungen überraschen mit einem übertrieben jovialen Ton.
Das ist längst nicht nur ein Problem für ältere Reisende. Auch viele Jüngere, die beruflich oder interkulturell sensibel kommunizieren, wünschen sich eine respektvolle Formulierung – nicht zuletzt im bezahlten Kundenkontakt.
Die soziologische Perspektive: Warum wir Distanz brauchen
Soziale Distanz ist nicht per se negativ. Sie ist ein kulturelles Regulativ, das Orientierung und Schutz bietet. Das „Sie“ schafft einen kommunikativen Zwischenraum, in dem beide Seiten ihre Rollen finden können – ob als Gastgeber und Gast, Kunde und Dienstleister, Fragender und Antwortender.
Ein plötzliches, ungefragtes Duzen kann die Professionalität untergraben, wo klare Rollenverteilung gefragt ist. Es kann Erwartungen erzeugen, die nicht eingelöst werden, beispielsweise bei Reklamationen. Zudem kann es kulturelle Normen verletzen, etwa bei Gästen aus Asien, dem arabischen Raum oder Südamerika, wo förmliche Anrede oft tiefer verwurzelt ist. Schließlich kann es das Gefühl verstärken, „nur noch Zielgruppe“ zu sein und nicht als Individuum wahrgenommen zu werden.
Das „Du“ als Marketingwaffe: Nähe ohne Beziehung
Das flächendeckende Duzen ist Teil eines übergeordneten Trends: der Emotionalisierung von Werbung und Dienstleistung. Wer „duzt“, will sich vom „alten“ Geschäftsgebaren abgrenzen – Stichwort: freundlich statt formell, authentisch statt distanziert, Community statt Kundschaft. Doch was dabei oft entsteht, ist eine Pseudonähe, die sich bei Problemen schnell ins Gegenteil verkehrt.
Ein Beispiel: Wenn auf der Website „Hey, schön, dass du da bist“ steht, aber bei einer Reklamation niemand zuständig ist oder der Service kalt bleibt – dann wirkt das „Du“ wie eine leere, unglaubwürdige Geste.
Was tun? Empfehlungen für eine bewusste Sprache im Tourismus
Die Lösung liegt nicht in einem plötzlichen Rückfall in übertriebene Förmlichkeit, sondern in der situativen, respektvollen Wahl der Anrede.
Für Reiseanbieter bedeutet dies, beim Erstkontakt lieber mit „Sie“ zu beginnen, besonders bei einem gemischten oder unbekannten Publikum. Das „Du“ kann später immer noch angeboten werden, wenn sich eine echte Vertrautheit entwickelt. Es ist wichtig, auf Websites und in Werbematerialien kritisch zu prüfen, ob das „Du“ wirklich zur Zielgruppe und zum Produkt passt, oder ob es nur einem Trend folgt. Zudem sollten Mitarbeitende im sensiblen Umgang mit Sprache und der Vielfalt internationaler Kundschaft geschult werden. In internationalen Kontexten ist es entscheidend, klare sprachliche Differenzierung beizubehalten, da Englisch nicht gleich Deutsch ist und Missverständnisse vermieden werden müssen.
Für Reisende ist es ratsam, selbstbewusst den Wunsch nach Siezen zu äußern. Das ist kein Affront, sondern Ihr gutes Recht auf eine respektvolle Ansprache. Ein einfaches „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir uns siezen könnten“ reicht oft schon aus. In sozialen Medien können Sie bewusst wählen, in welchem Ton Sie sich bewegen und welche Anrede Sie selbst bevorzugen. Und denken Sie daran, auf kulturelle Kontexte zu achten: Was in einem Szeneviertel in Berlin-Mitte als normal empfunden wird, kann in Wien, Prag oder anderen Regionen völlig anders wirken.
Sprache ist kein Zufall, sondern Haltung
Das ungefragte Duzen auf Reisen ist selten Ausdruck von Freiheit, sondern oft ein Symptom sprachlicher Gleichmacherei. Wer das „Du“ automatisch verwendet, nimmt der Begegnung ihre ursprüngliche Offenheit und die Chance auf eine authentisch gewachsene Nähe. Wirklicher Respekt entsteht nicht durch aufgesetzte Nähe, sondern durch aufmerksame Haltung.
Und diese Haltung beginnt mit der einfachsten, aber wichtigsten Frage: Wie möchtest du – oder Sie – eigentlich angesprochen werden?